„Ich komme einfach immer, keine Ahnung, warum!“
Diese Aussage stammt von einer jungen Frau, die in einem der Angebote für Mädchen* bei pro juventa teilnimmt. „Draußen werden wir gemobbt, hier fühl ich mich wohl, hier haben wir einen guten Umgang miteinander.“, sagt ein anderes Mädchen.
Gefragt, was den Unterschied zwischen einer geschlechtsgemischten und einer geschlechtshomogen Gruppe ausmacht, ist manchmal schwer zu beschreiben. Für manche Mädchen* und junge Frauen* ist es die Möglichkeit, über Themen zu sprechen, für die sie sonst keinen Raum finden, weil sie schambesetzt sind oder „weil man da halt nicht drüber redet“. Für manche ist es eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, keinen Ansprüchen mehr genügen zu müssen und für manche ist es „nur“ die Freude an der Begegnung mit anderen Mädchen* und Frauen*.
Mädchen*arbeit findet jedoch nicht nur in geschlechtshomogenen Gruppen statt, sondern überall da, wo es eine gezielte Förderung der Selbstbestimmung von Mädchen* und jungen Frauen* gibt und es das Ziel ist, ihre Handlungsmöglichkeiten unabhängig von gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen zu erweitern.
In Reutlingen gibt es ein breitgefächertes Angebot: es reicht von gÖrls e.V., dem Mädchen*café in Reutlingen, über geschlechtssensible Angebote in Jugendtreffs und -häusern (die häufig männlich* dominiert sind), bei der mobilen Jugendarbeit und beim evangelischen Jugendwerk bis hin zu spezialisierten Beratungsangeboten, z.B. bei Wirbelwind – Verein gegen sexuelle Gewalt an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Auch in der Schulsozialarbeit, bei der Jugend-und Familienberatung, Jugend- und Drogenberatung sind die Belange und Bedürfnisse von Mädchen* auf dem Schirm. Die Kulturwerkstatt e.V. bietet Programmierkurse nur für Mädchen* an. In der Flotten Lotte, einem Arbeitskreis von Pädagoginnen, die Mädchen*arbeit umsetzen und sich neben fachlichem Austausch und gemeinsamen Veranstaltungen um eine Lobby für Mädchen* verdient macht, sind die Fachkräfte vernetzt.
In diesem Fachgremium wurde deutlich, dass viele Fachkräfte aufgrund der coronabedingten Einschränkungen Entwicklungen beobachten, die besorgniserregend sind. Dies bestätigt auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter: Kinder und Jugendliche reagieren auf die aktuelle Krise mit Isolation und sozialem Rückzug, Bildungsnachteile wirken besonders gravierend und die psychosoziale Entwicklung wird erschwert bzw. behindert.
Aussagen von Mädchen* in Reutlingen belegen, dass alle Lebensbereiche von Einschnitten betroffen sind: „Seit meine Freizeitaktivitäten nicht mehr stattfinden, bin ich nachmittags immer alleine. Chatten nervt langsam. Ich will wieder zum Sport.“ „Ich mache mir Sorgen um meinen Schulabschluss: Der Unterricht fällt oft aus. Videounterricht hat nicht dieselbe Qualität wie Unterricht vor Ort.“ „Mein Praktikum ist ausgefallen und findet vielleicht gar nicht mehr statt. Das stresst mich, weil ich dann den Übergang in die Ausbildung schwieriger finde.“ „Zu Hause ist es sehr stressig, weil ich nirgends Ruhe habe, um meine Aufgaben zu machen oder mal für mich zu sein. Ich habe keinen Ort mehr, an dem ich entspannen kann und mich wohlfühle, seit es im Jugendhaus so kompliziert ist hinzugehen. Das ist mein wichtigster Ort zum Auftanken.“ „Ich habe Angst, dass meine Eltern ihre Arbeit verlieren. Ich kann jetzt mit ihnen nicht auch noch über meine Sorgen reden.“
Neben den individuellen Erfahrungen und Sorgen sind strukturelle Auswirkungen auf die Lebenslagen von Mädchen* und Frauen* festzustellen: In Familien ist eine zunehmende Orientierung an alten Rollenbildern zu beobachten, die Fürsorgearbeit wird – zunehmend offensichtlicher – wieder vermehrt von Frauen* übernommen.
Durch die Corona-Pandemie haben sich besonders im beruflichen Feld sowie bei der Übernahme der Care-Arbeit im Rahmen der Familie bereits prekäre Situationen weiter verschlechtert. Seit April 2020 wurden beispielsweise deutlich mehr Männer* als Frauen* neu eingestellt, vor allem Frauen* arbeiten im Niedriglohnsektor und in prekären Arbeitsverhältnissen ohne sozialversicherungspflichtige Anstellungen.
Die Vertreterinnen der Flotten Lotte warnen: Wir sind von einem gesellschaftlichen „Roll-Back“ bedroht, also von Rückschritten in der Gleichstellung aller Geschlechter. Für Mädchen* und junge Frauen* beinhaltet dies zum Beispiel die zunehmende Übertragung von familiärer Verantwortung für jüngere Geschwistern oder von Aufgaben im Haushalt. Es findet also eine noch stärkere Fokussierung auf die eigene Familie und ein Rückzug aus der Öffentlichkeit statt.
Insbesondere Fachkräfte der offenen Mädchen*arbeit in Reutlingen berichten, dass weniger Mädchen* die möglichen Angebote in Anspruch nehmen und dass in den Kontakten deutlich wird, wie sehr sie von den aktuellen Einschränkungen betroffen sind. Die Rückmeldungen lassen vermuten, dass die Mädchen* und jungen Frauen* insbesondere die Freiräume und Erholungsphasen in niedrigschwelligen Angeboten (z.B. Hausaufgabenbetreuung, Tür- und Angelgespräche) vermissen. Finanzielle und existenzielle Sorgen stehen im Vordergrund, dies trifft verstärkt auf alleinerziehende Mütter zu. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Beratungsleistungen (z.B. zur Beantragung von finanziellen Mitteln) schwerer zugänglich sind.
Eine weitere Folge der Beschränkungen des Sozialraums durch die entsprechenden Verordnungen ist das erhöhte Risiko von Gewalt im sozialen Nahraum. Auch diesem sind besonders Mädchen* und Frauen* ausgesetzt. Bei Wirbelwind e.V. sind die Anfragen im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 50% gestiegen. Vergleichbares berichtet auch die Opferhilfeorganisation, deren bundesweite Anfragen in der Onlineberatung ebenfalls um 50% angestiegen sind. Obwohl unklar ist, wieviel des Anstiegs sich auf die Corona-Pandemie zurückführen lässt, sind diese Zahlen zumindest teilweise in Zusammenhang zu sehen.
Die niederschwellige Arbeit, die so viele junge Menschen benötigen, bleibt dringend nötig, sollte sogar ausgeweitet werden. „Face-to-face“-Beratungsangebote müssen erhalten werden, ebenso wie Begegnungs- und Erfahrungsräume vorgehalten werden müssen, soweit es das Infektionsgeschehen zulässt.
Mädchen*arbeit ist derzeit besonders gefordert, einen Freiraum und Schutzraum zu bieten, Ansprechpersonen zu stellen und somit einen wichtigen Gegenpol zu den oben genannten Entwicklungen zu setzen. Dies ist jedoch nur mit einer ausreichenden und gesicherten Finanzierung für entsprechende Angebote möglich.
Dies wird benötigt, um
- Räume für Mädchen* und Frauen* bereitzustellen, in denen sie sich frei entfalten und ausleben können und in denen sie die benötigte Unterstützung erfahren.
- das Bestehen und die Verstärkung von stereotypen Rollenbildern kritisch zu hinterfragen und so Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen.
- Macht- und Ungleichstrukturen und deren Bedeutung für Diskriminierungserfahrungen zu erkennen.
Trotz der zu erwartenden oder bereits bestehenden eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten in den Kommunen ist die finanzielle Absicherung im Bereich der Mädchen*- und auch der Jungen*arbeit notwendig, um junge Menschen während dieser herausfordernden Zeiten zu unterstützen und gesellschaftliche Rückentwicklungen bei der Gleichberechtigung aller Geschlechter zu vermeiden.
Kontakt zum Arbeitskreis Flotte Lotte: Flotte.Lotte@posteo.de
Wir freuen uns über Interesse von Fachfrauen an der Mitarbeit im Arbeitskreis und stehen mit unserer Fachexpertise gerne zur Verfügung.